KOPFLOS

eine Halloween-Geschichte

»Wer stört meine Mittagsruhe?« Der Ritter ohne Kopf warf mir, so schien es zumindest, einen herausfordernden Blick zu.

Ich zögerte. Man begegnet ja nicht alle Tage einem mit Schwert bewaffneten Kopflosen mit Brustpanzer, da sollte man sich gut überlegen, was man sagt.

»Unversegt«, stellte ich mich vor, »ich komme von den ...«

»Unzersägt?«, unterbrach er mich. Seine Hand, in Nähe des Schwertgriffes, zuckte.

»Nein, Unversegt ist mein Name, mit Vau und Ee, Hajo Unversegt.«

Die Hand entspannte sich. »Ich dachte schon, Sie wollten mich necken.«

Ich kannte diesen Ausdruck aus meiner niederländischen Heimat, wo er für »jemandem den Hals brechen« steht, und fragte mich, wie das vor sich gehen sollte.

»Man hat mir gesagt, dass ich Sie hier treffen würde«, begann ich vorsichtig.

Er legte die Schulter schräg. »Meinetwegen. Aber Sie dürfen nur auf meinen Kopf zielen.« Er kakelte wie ein Huhn kurz vor der Schlachtung. Ich vertrieb den Gedanken sofort. Immerhin schien er Humor zu besitzen.

Er trat einen Schritt zur Seite, um mich vorbei zu lassen, und schloss die Tür.

Ich sperrte die Augen auf und ließ meinen Blick durch den majestätischen Saal wandern. Entlang den vier Wänden standen Ritterstatuen aufgereiht, manch einer in voller Rüstung, andere nur mit Brustpanzer versehen. In den Handschuhen aus Gliederketten hielten sie Langschwerter und Schilder mit nach unten zulaufenden Spitzen. Die Helme, mit Klappvisier versehen, lagen daneben auf den über die Jahrhunderte ausgetretenen Holzdielen. Über jeder Ritterfigur hing ein in goldverzierten Rahmen gefasstes Porträt an der Wand.

Allen Rittern fehlte der Kopf.

Ich zeigte auf die Bilder. »Ihre Vorfahren?«

Er beugte kurz den Oberkörper, das ich als Kopfnicken verstand.

»Darf ich?« Ich schritt die Wände entlang, ab und an aus dem Augenwinkel spähend, ob seine unsichtbaren Augen mir folgten. Und tatsächlich, als ich eine volle Runde zurückgelegt hatte, hatte er sich um 180 Grad gedreht und stand mir zugewandt.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er: »Ich kann jeden noch so leisen Schritt hören.«

Ich schluckte die Frage, womit er dann hörte, gerade noch herunter. Eigentlich wollte ich das gar nicht wissen.

»Sie sind also Journalist?«, fragte er mich.

Ich nickte.

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir akustisch antworten könnten, Herr Unversagt, sonst wird das hier nichts mit dem Imterview.«

Die Schamröte stieg mir ins Gesicht. »Ent ... entschuldigen Sie«. Herrje! Das durfte mir nicht nochmals passieren! »Ja natürlich. Wie ich bereits sagte, Hajo Unversegt, mit Ee, von den Schaumweiher Nachrichten.«

»Schlaumeier Nachrichten?«

»Nein nein, Schaum-Weiher. Wie die Kläranlage.«

»Verstehe. Und was gibt es bei mir zu klären?«

Das könnte mühsam werden. Ich gab mir einen Ruck. »Wie ich Ihnen bereits am Telefon sagte, plant die Zeitung einen Artikel über Sie. Uns interessiert dabei, wie sie so über die Runden kommen.«

»Komische Frage. Im Schloss ist nichts rund, auch die Türme sind eckig, wie sie vermutlich bemerkt haben. Obwohl es ohne Ecken und Kanten natürlich weniger schmerzhaft für mich wäre.« Er rieb sich den linken Ellbogen, wohl um das zu verdeutlichen. »Besonders am frühen Morgen ecke ich oft an. Aber unserer Familientradition gemäß nehmen wir das Leben nun mal nicht auf die leichte Schulter, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Ja, er hatte Humor, das musste ich ihm lassen.

»Verstehe. Aber was ist mit draußen? Wie kommen Sie in der Öffentlichkeit zurecht?«

»Augenblick.« Er verschwand in der Küche und kehrte mit einem ausgehöhlten Kürbis zurück, die er sich auf die Stelle setzte, wo sich für gewöhnlich der Kopf befindet. Merkwürdigerweise blieb er an Ort und Stelle haften, als der Ritter ihn losließ und sich zur Tür bewegte. Bevor er sie öffnete, stellte ich ihm die auf der Hand liegende Frage: »Warum haben Sie den Kürbis ausgehöhlt?«

»Ja, warum wohl? Wissen Sie, wie schwer so ein Kürbis ist? Auch wenn es gegen die Familientradition verstößt, aber Bequemlichkeit muss doch ab und zu sein, finden Sie nicht?«

Ich bejahte diese Philosophie und wir verließen das Schloss.

Auf der Straße liefen mehrere Väter und Mütter in Richtung der Innenstadt. Ihre in Gespensterkostüme gehüllten Kinder ließen mit Fratzen geschnitzte, von innen durch Kerzen beleuchtete Kürbisse an Stöcken vor sich herbaumeln. Manche warfen verstohlene Blicke auf den Ritter mit dem Kürbiskopf. Er hatte versäumt, Augenschlitze hinein zu schneiden. Anscheinend fielen ihm die Blicke auf, denn während wir die Straße überquerten auf dem Weg in den Park, äußerte er sich dazu. »Am Anfang bin ich ohne Kopfbedeckung auf die Straße gegangen, aber irgendwann ging mir das Kindergeschrei auf den Keks. Als dann noch Polizisten mir vorwarfen, den Kindern Angst einzujagen und mich baten, den Kopf aus dem Mantel zu strecken, bekam ich soo einen Bauch.« Er breitete die Hände aus, um den Worten visuellen Nachdruck zu verleihen.

Mir kam sein Bauch bereits ohne die Gestik vor, als würde er sich ständig ärgern.

»Wussten Sie eigentlich, dass heute Halloween gefeiert wird?«, begann ich das Gespräch, nicht so recht klar darüber, in welche Richtung ich das Interview führen sollte.

»Hallo Wien? Also, in Wien war ich schon mal. Wie kommen Sie jetzt darauf?«

»Das haben Sie falsch verstanden«, beeilte ich mich, das Missverständnis auszuräumen, »wir feiern nicht die Stadt Wien, sondern den Tag vor Allerheiligen. Heute haben wir ja den 31. Oktober.«

Er ließ diese Erkenntnis einen Moment sacken, bevor er antwortete: »Heute ist mein Geburtstag, aber ich bin trotzdem kein Heiliger. Das haben Sie aber nicht gewusst, was?«

Ich musste ihm gestehen, dass diese wichtige Information aus der Redaktion nicht zu mir durchgesickert war.

»Da haben Sie nicht gut recherchiert, Herr Unversehrt. Wien war Ihnen wohl wichtiger.«

»Herzlichen Glückwunsch.« Ich versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

»Nehmen Sie es nicht zu schwer, junger Mann. Geburtstage bedeuten mir nicht viel. Heiligen auch nicht. Immerhin freue ich mich sehr über ihren Besuch. Fragen Sie weiter, bitte.«

Ich räusperte mich. »Was hat Sie hierher geführt?«

»Hier in den Park? Nun, Sie natürlich, schon vergessen?«

Ich gewöhnte mich allmählich an seine allzu wörtliche Interpretation meiner Fragen.

»Nach Schaumweiher, meine ich.«

»Das hätten Sie letztes Jahr bereits meinen Großonkel fragen können, der vor mir im Schloss gelebt hat.«

»Ihr Großonkel hat aber jegliches Interview abgelehnt.«

»Hat er? Ja, das passte zu ihm. Aus Angst vor Kopfzeilen in der Zeitung, vermute ich. Statt für unsere Sache zu kämpfen, steckte er lieber den Kopf in den Sand.«

Ich versuchte gerade, mir beides vorzustellen, als er mich überraschte.

»Wissen Sie, es gibt nicht viele Familien wie unsere, die kopflos durch die Weltgeschichte wandern und trotzdem so viele Erfolge aufweisen.«

Auch wenn ich diese Erfolge nicht auf Anhieb benennen konnte, musste ich ihm zumindest in einem Punkt recht geben: Die Familie hatte Jahrhunderte überlebt und würde vermutlich noch länger dasein.

Auf Nachfrage erzählte er mir von den vielen Erfolgen der Vergangenheit, angefangen bei den gewonnenen Turnieren im Mittelalter, »meine Gegner zielten mit der Lanze immer auf meinen Kopf, wissen Sie«, bis hin zu den olympischen Goldmedaillen im Säbelfechten. »Ja, auch wir mussten Schutzhauben tragen«, kam er meiner Frage zuvor, »wenn auch nur der Optik wegen.«

Auf dem Rückweg zum Schloss stellte ich ihm die wichtigste Frage, die ich mir für den Schluss aufgehoben hatte: »Wie handhabt es Ihre Familie bei der ... Familienplanung? Ich meine, wo finden Sie die Frauen mit, sagen wir mal, fremdem Blut, wenn ich es so nennen darf?«

Es dauerte eine Weile, bevor er antwortete. »Endlich mal eine gute Frage, Herr Unverzehrt. Wie Sie sicher wissen, ist es in diesen Tagen nicht besonders schwer, Gehirnlose zu finden, aber die gehören nicht zu unserer Zielgruppe. Über diese Menschen kann ich nur den Rücken schütteln. Ehrliche und intelligente Kopflosen aufzutreiben, das ist die Kunst.«

Er schwieg. Über dieses Thema zu sprechen, fiel ihm plötzlich schwer. Dann fuhr er fort: »Für mich wird es allmählich Zeit, eine Gattin zu finden, aber ich tue mich schwer. Ich hatte eine Anzeige im Internetportal Kopflosesglückdotcom geschaltet, darauf meldete sich eine. In die habe ich mich beim ersten Treffen bis über die Schulter verliebt.«

Es folgte ein kurzes Schweigen.

»Leider hat es dann doch nicht geklappt. Es ging ihr wohl zu sehr Hals über Kopf.« Wissen Sie, nach dem Ableben meines Großonkels soll ich jetzt Kopf der Familie sein ...«, er ließ dem Gesagten ein trauriges Kakeln folgen, bevor er weiterfuhr: »... aber ohne Ehefrau wird das nichts, des Nachwuchses wegen, Sie verstehen. Nun ja, ich lasse die Arme nicht hängen und suche weiter.«

Wir hatten das Schloss erreicht. Er öffnete die Vordertür.

»Bekomme ich einen Vorabzug ihres Artikels?«

»Selbstverständlich.«

Er reichte mir die Hand. Der augenlose Kürbis wirkte plötzlich traurig.

»Danke für das Interview und auf Wiedersehen!«

Einen Augenblick standen wir uns gegenüber wie alte Freunde.

»Kopf hoch!«, sprach ich ihm Mut zu.

»Und immer Lächeln.«