Der Moderator reichte mir die Hand und nahm mir gegenüber Platz. Die Assistentin Carmen stellte eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser auf den Tisch, verabschiedete sich mit einem Wimpernschlag in meine Richtung. Auf ein Zeichen des Kamerateams startete die Fernsehaufnahme.
»Guten Tag, liebe Zuschauer, ich begrüße Sie von der Frankfurter Buchmesse«, fing der Moderator an, während er in die Kamera blickte. »Heute habe ich den Autor Max Delius zu Gast, bekannt geworden durch den Thriller ›Mörder aus Versehen‹. Nicht so sehr durch das Buch an sich, als vielmehr durch das, was dem Autor dabei am eigenen Leib widerfahren ist, als die Mordopfer seiner Geschichte nicht nur auf dem Papier umgebracht wurden. Das werde ich aber hier nicht weiter vertiefen.«
Er wandte sich mir zu. »Herr Delius, führen auch Sie den Erfolg dieses Buches auf die Geschehnisse von vor einem Jahr zurück?«
Ich überlegte kurz. »Die Frage müssen sie meinen Lesern stellen, ich kann das nicht beurteilen. Aber mit dieser Antwort werden Sie sich wohl nicht zufriedengeben, denke ich mir.«
»So ist es. Lassen Sie mich die Frage anders stellen: Haben Sie trotz dieser ›Begleitumstände‹ mit diesem Erfolg gerechnet? Das Buch wurde ja erst nach Ihrer Freilassung aus der Untersuchungshaft gedruckt.«
Ich beschloss, die Gelegenheit meines ersten öffentlichen Auftritts vor der Kamera zu nutzen, um mir etwas von der Seele zu reden.
»Nein, ehrlich gesagt habe ich das nicht. Die von mir hinsichtlich der Publizierung meiner Geschichten gemachten Erfahrungen stecken noch zu fest in meiner Erinnerung. Jahrelang habe ich versucht, meine Buchprojekte bei Literaturagenturen und Verlagen unterzubringen, aber keiner wollte sie haben. Mal waren meine Manuskripte für einen Erstlingsroman zu umfangreich, mal hieß es, das Exposé überzeuge nicht, das Thema passe nicht zum Verlag, sei unglaubwürdig oder fällt ganz aus dem Rahmen. Gemeint war der Rahmen des Mainstreams. Wollen Sie die Wahrheit wissen? Nach meiner Kenntnis kaufen deutsche Verlage ohne allzu großes Risiko nicht nur das Genre Thriller lieber als Übersetzung von Bestsellern ausländischer Autoren.«
Sofort witterte mein Interviewer eine heiße Spur.
»Sie behaupten also, dass deutsche Verlage lieber Übersetzungen von ausländischen Bestsellern in ihre Programme aufnehmen, als die Originalwerke deutscher Autoren?«
»Natürlich wird das nicht öffentlich herausposaunt. Doch schauen Sie sich in den Buchläden mal die Auswahl deutscher Thriller im Vergleich zu den vielen Übersetzungen von US-amerikanischen und skandinavischen Autoren an. Man sieht es in letzter Zeit auch an die vielen englischen Buchtitel deutschsprachiger Bücher, egal ob übersetzt oder nicht.«
»Aber ... vielleicht gibt es nicht so viele deutsche Autoren, die in diesem Genre schreiben?«
Bingo. Auf diesen Einwand hatte ich heimlich gehofft. Ich grinste ihn an. »Sie denken da natürlich sofort an Bestsellerautoren wie Fitzek oder Schätzing. Sie haben recht, deutsche Bestsellerautoren des Genres Thriller können Sie an den Fingern einer Hand abzählen. Wissen Sie, wie groß der Prozentsatz der bei deutschen Verlagen eingereichten Manuskripte deutscher Debüt-Autoren beträgt, die tatsächlich als Buch erscheinen?«
»Eh ... Sagen Sie es mir?«
»Weniger als ein Promille. Und wie viele Thriller mag es unter diesen Abertausenden von Manuskripten, die jährlich eingereicht werden, wohl geben?«
Ich gab die Antwort selbst. »Keiner weiß das so genau, aber glauben Sie ja nicht, dass es von vornherein zu wenige Manuskripte, sprich: zu wenige deutschsprachige Thrillerautoren gibt. Nein, es sind immer die Auswahlkriterien der Verlage, die über das Weiterverfolgen oder Ablehnen eines Erstlings-Manuskripts entscheiden. Die Ausnahme, wie vermutlich in meinem Fall: äußere Umstände. Auch Prominenz, sei es politische oder kulturelle, hat als Debüt eine große Chance. Wir, die unbekannten Autoren, müssen uns also messen mit medialen Berühmtheiten wie Markus Lanz und dergleichen. Frustrierend genug, finden Sie nicht? Ansonsten gelten in der Regel die einfachsten marktwirtschaftlichen Grundsätze: Angebot und Nachfrage! Auch Bücher müssen mit möglichst geringem Aufwand möglichst viel Geld in die Kasse spülen. Also kauft man das vermeintlich beste und gleichzeitig kostengünstigste Angebot ein. Wie gesagt, das sind meistens die Übersetzungen. Bei guten Übersetzern spart man außerdem das Lektorat. Im Internet las ich neulich, dass amerikanische Autoren auf dem Gebiet des Spannungsromans angeblich die besten sind! Was glauben Sie, was so eine Aussage für einen angehenden deutschen Krimiautor wohl bedeutet?«
Ich hatte mich heiß geredet. Um etwas abzukühlen, beugte ich mich zum Glas Wasser und trank einen Schluck, auch um meinen Worten mehr Aufmerksamkeit zu verleihen.
Mein Interviewer beschloss, ein wenig die Richtung zu wechseln. »Kommen wir zurück zu Ihnen, Herr Delius. Wir wissen jetzt, wie Sie es geschafft haben, nach anfänglichen Gegenschlägen Ihr erstes Buch erfolgreich zu publizieren ...
Er sah mein heftiges Kopfschütteln und korrigierte sich sofort. »Ich meine natürlich, wie Sie selbst sagen, erfolgreich durch die äußeren Umstände. Aber die alleine erklären noch nicht den jetzigen Ansturm auf ihre früheren Bücher. Dazu haben wir die für das Marketing zuständige Person Ihres neuen Verlags gefragt.«
Er schaute hoch zur Leinwand, die über unseren Köpfen aufgespannt war, worauf eine grauhaarige Dame erschien. »Wir haben im Internet in verschiedenen Blogs nachgeforscht«, begann sie. »Die fast immer gleiche Reaktion auf Herrn Delius´ Geschichten lautet: ›Er schreibt sehr spannend, aber das allein ist es nicht. Viele Leser berichteten, dass ihnen die Genauigkeit, womit Delius´ Verbrecher Ihre Taten planen, und die reelle Chance, dass sich solche Taten auch in Wirklichkeit genauso ereignen könnten, sie fasziniert hätten. Kein Autor plant die Taten seiner Buchfiguren so realitätsnah, wie Max Delius. Manche Leser sagten sogar aus, dass sie bei einem realen Verbrechen nachschauten, ob Herr Delius es nicht bereits irgendwo geschrieben hätte. Er gilt inzwischen als unangefochtene Nummer Eins auf diesem Gebiet.«
Sie wurde mit einem Lächeln ausgeblendet.
Der Moderator sah mich an. »Was sagen Sie dazu?«
Ich zuckte die Schulter. »Was wollen Sie hören? Ich freue mich natürlich über solche Aussagen, und natürlich gebe ich mir viel Mühe, die Tathergänge so nah wie möglich an der Wirklichkeit zu beschreiben. Aber das machen alle guten Krimiautoren, ich bin da keine Ausnahme.«
»Offenbar doch«, bemerkte mein Gegenüber.
Im Publikum schoss eine Hand in die Höhe. Eine Kamera schwenkte zu einem Mann mit einem Presseausweis um den Hals. Der Moderator gab ihm ein Handzeichen, seine Frage zu stellen.
Der Mann erhob sich. »Nach den Geschehnissen der jüngsten Vergangenheit ... haben Sie eigentlich keine Bedenken, dass es jetzt erst recht Nachahmer gibt, die Ihre Geschichten zur Vorlage für ein ähnliches Verbrechen nehmen?«
Eine typische Frage eines Pressevertreters, dachte ich mir. »Sie meinen, ob ich vielleicht wieder Angst haben müsste, eines Tages in Handschellen abgeführt zu werden als derjenige, der das Drehbuch für einen Mord geschrieben hat?«
Der Mann verzog keine Miene. »Das wäre zweitrangig. Ich denke da eher an die Opfer.«
»Wenn das, was Sie andeuten, tatsächlich nochmals geschehen könnte, müsste ich eigentlich aufhören, zu schreiben. Und nicht nur ich. Um auf Ihre Frage zu antworten: Nein, diese Bedenken habe ich nicht. Denn wie das Leben immer wieder beweist, ist die Realität um einiges grausamer als jede Fiktion, sei es im Film oder Buch.«
»Mit Ausnahme Ihres Buches.« Der Fragesteller setzte sich. Seine Miene zeigte mir, dass das Thema für ihn noch nicht abgehakt zu sein schien.
Eine weitere Hand streckte sich in die Höhe.
»Herr Delius, glauben Sie, dass Sie hellseherische Fähigkeiten besitzen?«
Einen Moment staunte ich über diese Frage. Ich sah hinüber zu der jungen Frau, die sie gestellt hatte. Sie trug pechschwarzes, langes Haar. Vermutlich gefärbt, fuhr es mir durch den Kopf. Ihr Gesicht war bleich, was durch ihr schwarzes Augen-Make-up noch untermalt wurde. Ich stellte mir vor, sie wäre aus einem Vampirfilm herübergesetzt worden.
»Ich verstehe ehrlich gesagt Ihre Frage nicht.«
»Sagt Ihnen der Buchtitel: ›Futility‹ etwas?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, sagt mir nichts.«
»Futility war der Titel eines Liebesromans des Schriftstellers Morgan Robertson aus dem Jahre 1898. Darin kollidiert das größte Passagierschiff der Welt im Nordatlantik mit einem Eisberg und geht unter. Das Schiff trug den Namen ›Titan‹. Nach dem Untergang der Titanic gab es Vermutungen, dass Robertson hellseherische Fähigkeiten hatte. Verstehen Sie jetzt meine Frage?«
Ich nickte. »Ja, jetzt verstehe ich sie. Gruselig, diese Geschichte. Im Jahre 1898, sagten Sie? Das erinnert mich an ein Bild aus dem Archiv der Universität von New York, dass ich heute im Internet gesehen habe. Das Foto zeigt drei Kinder und einen Hund auf einer Goldmine in Yukon, Alaska. Mit ihren zwei geflochtenen Haarzöpfen sieht das Mädchen im Vordergrund der Klimaaktivistin Greta Thunberg zum Verwechseln ähnlich. Das Foto stammt ebenfalls aus 1898, wie das von Ihnen erwähnte Buch. Jetzt werden die Stimmen laut, wonach Greta eine Zeitreisende sein soll, die in der Zeit zurückgekehrt ist, um die Menschheit zu warnen. Vielleicht war das Jahr 1898 in dieser Hinsicht ein ganz besonderes Jahr, eines geprägt von Übersinnlichkeit.«
Ich nahm einen Schluck Wasser.
»Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Soviel ich weiß ist noch keines der Geschehnisse aus meinen anderen Büchern danach in Wirklichkeit eingetroffen. Also nein, ich bin fest davon überzeugt, dass ich keine hellseherischen Fähigkeiten besitze. Und wir leben auch nicht im Jahr 1898«, fügte ich lächelnd hinzu.
Ich hatte mit einer Nachfrage von ihr gerechnet, aber sie sah mich nur an. Ihr Blick hatte etwas Unheilvolles und ich musste mich zwingen, den Augenkontakt abzubrechen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie sich wieder setzte. Wie der Pressemann vor ihr schien auch sie sich meiner Antwort innerlich zu widersetzen.
Der Moderator setzte das Interview fort.
»Eine letzte Frage noch, Herr Delius: Was ist ihr nächstes Projekt? Woran arbeiten Sie im Moment?«
Ich zögerte, musste an die Frage der schwarzhaarigen Frau denken.
»Kennen Sie das Buch "The Day of the Triffids" vom britischen Autor John Wyndham aus dem Jahr 1951? Nein? Es beginnt mit dem folgenden Satz: ›When a day that you happen to know is wednesday starts off by sounding like sunday, there is something seriously wrong somewhere.‹ Ich übersetze das gerne ins Deutsch: ›Wenn ein Tag von dem du zufällig weißt, dass es ein Mittwoch ist, damit beginnt, dass er sich nach einem Sonntag anhört, dann ist irgendwo etwas richtig falsch.‹ Im Buch geht es um den »Tag danach«. Nach einer Nacht voller Himmelblitze, die nicht von einem Unwetter stammten, sind alle Menschen, die zugeschaut haben, am nächsten Morgen blind.«
Ich sah in die gespannt auf mich gerichteten Blicke und fuhr fort. »Auf die heutige Zeit und besonders den Klimawandel bezogen, geschieht etwas noch viel Schlimmeres: Die Menschheit schaut zu, wie sie selbst untergeht, und ist gleichzeitig blind. Doch darüber handelt mein nächstes Buch nicht, keine Angst.«
Halbherziges Gelächter im Publikum.
»In meinem nächsten Buch ENIGMA schreibe ich über eine andere Blindheit. Über blindes Vertrauen und die Blindheit des Glaubens.«
Ich ließ den Blick über das Publikum gleiten. »Darin geht es um die Prophezeiung des Malachias. Hat jemand von Ihnen schon mal von ihm gehört und eine Ahnung, was er vorhergesagt hat?«
Keiner meldete sich.
»Sankt Malachias, der irische Erzbischof von Armagh, lebte bis in die Mitte des elften Jahrhunderts. Er hat eine Weissagung auf sämtliche Päpste nach Cölestin II. erstellt, also von 1143 bis zum Ende der Kirche. Die Aussagen stimmten erstaunlich genau überein mit den Rufnamen oder Wappen der zukünftigen Päpste bzw. mit markanten Umständen ihres Pontifikates. Bis hin zum vorletzten Papst mit der Olive im Wappen. Hat jemand eine Ahnung, wer das sein könnte?«
Erneut keine Reaktion aus dem Publikum.
»Das war Papst Benedikt der Sechzehnte, der deutsche Kardinal Ratzinger. Für ihn sagt die Weissagung „Gloria Olivæ – Ruhm des Olivenbaums” voraus. Einen Hinweis auf die Benediktinerkongregation der Olivetaner, die eine Olive als Symbol haben. Diese Kongregation wurde von einem Deutschen begründet und bezieht sich auf den Heiligen Benedikt von Nursia, der denselben Namen trägt. Bemerkenswert in der Weissagung ist ebenfalls, dass die zwei dem letzten Papst vorangegangenen Päpste erstmals seit Hadrian VI. nicht-italienischer Abstammung sind. Wie wir wissen, war Woytila Pole und Ratzinger Deutsche.«
Gemurmel unter den Zuhörer.
»Um Ihre Frage zu beantworten: Mein kommendes Buch handelt über den letzten Papst der hundertzwölf orakelhaften Weissagungen. Sein Name lautet „Petrus Romanus”. Die Weissagung lässt vermuten, dass es in der Zeit seines Pontifikats zur Zerstörung Roms, oder zur Flucht und/oder sogar Ermordung des Papstes kommen soll.«
Das Gemurmel verstummte.
»Dann hoffen wir mal, dass Sie nicht die gleichen hellseherischen Fähigkeiten haben wie dieser Malachias«, sprach der Moderator sein Schlusswort in die Kamera und reichte mir die Hand.
Das Interview war beendet.