LESEPROBE VERSCHWÖRUNG

Deutsches Eck

Freitag um Mitternacht

 

Als er den Rhein auf der Pfaffendorfer Brücke überquerte, schien es ihm, eine Schwelle in die Vergangenheit zu überschreiten.

Eine Schwelle in die Gefahr.

Die Gefahr, die er für immer den Rücken gekehrt hatte. Er warf einen Blick auf die Digitaluhr im Armaturenbrett: zehn Minuten nach Mitternacht.

Nach der Brücke fuhr er nach rechts auf die Neustadt, vorbei an der Gartenanlage des kurfürstlichen Schlosses, das im Licht mehrerer Scheinwerfer strahlte. Er folgte dem Weg zur Mosel. Als vor ihm die Lichter der Balduinbrücke auftauchten, bog er in die enge, leicht ansteigende Burgstraße und schaltete die Scheinwerfer aus. Das karge Licht der Straßenlaternen genügte ihm, sich zu orientieren.

Am Florinsmarkt wendete er den Citroen in die Richtung, woher er gekommen war, stellte ihn am Straßenrand ab und schaltete den Motor aus. Den Schlüssel ließ er stecken.

Alte Gewohnheiten sterben nicht.

Hinter der Sitzlehne griff er nach dem Rucksack, in den er eine hochauflösende Digitalkamera mit Zoomobjektiv verstaut hatte. Außerdem eine Decke, eine MAG-LITE Taschenlampe, eine Thermosflasche mit heißem Kaffee und eine Tafel Schokolade. Für Aktionen wie heute Nacht bevorzugte er den Rucksack. Damit war er beweglicher. Wenn es sein musste, auch schneller. 

Er stieg aus. Die Türkontakte hatte er mit Tape überklebt, damit die Innenbeleuchtung beim Öffnen der Tür nicht automatisch reagierte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand ihm gefolgt war, lief er die Straße hinunter. Vor der alten Burg bog er nach rechts, eine breite Treppe hinab auf einen tiefer gelegenen Innenhof. Von dort gelangte er unter einer viaduktähnlichen Mauer hindurch auf die Uferstraße. Links von ihm ragten die elf Bögen der Balduinbrücke aus der Mosel heraus. Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos warfen grelle Lichtstreifen über die Brüstung in die Nacht.

Er drehte der Brücke den Rücken zu und schritt flussabwärts. Die Uferstraße verbreitete sich allmählich, bis eine Parkanlage sie teilte. Er wählte den Weg am Ufer und folgte der Biegung der Mosel nach Norden hin. Wie ein abendlicher Spaziergänger schlenderte er die Mauer entlang, die den Kai vom Park trennte. 

Dort, wo sie einem Parkplatz mit vereinzelt abgestellten Fahrzeugen wich, sah er hinüber zur Basilika Sankt Kastor. Ihre dunklen Zwillingstürme verschmolzen mit der Nacht. Sein Blick schweifte über ein weißes Gebäude hinweg, das sich schemenhaft hinter einer hohen Mauer erhob, hin zu einer Gruppe von Bäumen. Wie stille Wächter standen sie vor einem Bauwerk aufgereiht, das ihre Kronen überragte: die Statue des Kaisers Wilhelm I.

Sein Zielort in dieser Nacht.

Einige Spaziergänger trudelten dort noch herum, was zu dieser Stunde nicht ungewöhnlich war.

Am Ende der Uferpromenade stieg er mehrere Stufen hoch auf einen breiten Platz, das Deutsche Eck. Die spitz zulaufende Landzunge mit dem betonierten Keil erinnerte ihn an das Vordeck eines Schlachtschiffes aus dem letzten Weltkrieg. Er schritt bis zur Bugspitze vor und schaute eine Weile zu, wie die Strömung der Mosel tosend in den Rhein floss. Im ungleichen Kampf um den Vortritt unterlag die Mosel dem übermächtigen Giganten.

Er drehte sich um, näherte sich dem Denkmal. Beim ersten Mal, als er hierher gekommen war, hatte ihn die gewaltige Statue beeindruckt. Jetzt erschien sie ihm nur noch als das, was sie war: ein vergangenes Relikt einer von Größenwahnsinn geprägten Ära.

Die Anlage öffnete hufeisenförmig zum Deutschen Eck hin. Er stieg die Treppe hoch, die sich zwischen zwei schweren Begrenzungsmauern über die gesamte Breite des Hufeisens spannte, und erreichte den vorgelagerten Platz. 

Er sah zum Reiterstandbild empor, auf der Suche nach einem geeigneten Versteck. Der Kaiser auf seinem Schlachtross sonnte sich im grellen Licht der vier Scheinwerfer, die ihn von jeder Seite anstrahlten. Links von ihm flankierte ihn die geflügelte Gestalt der Genie, des Kaisers Glücksbringers.

Viel Glück hat sie dir nicht gebracht, Hoheit!

Das architektonische Scheusal kam ihm vor wie ein Mausoleum: vier Reihen quadratischer Säulen, darüber zurückversetzt ein Betonklotz, der den Eindruck eines mit Schießöffnungen versehenen Bunkers vermittelte. Er verwarf den Bunker als Versteck. Der beste Ort für sein Vorhaben war das Mausoleum. Von dort hätte er einen freien Blick auf den Vorplatz. Eine geringe Menge Licht der Strahler fiel auf die Kolonnaden. Er spähte in die dunklen Zwischenräume, stellte zufrieden fest, dass es unmöglich war, tiefer als die erste Säulenreihe hineinzusehen. In der schwarzen Kleidung würde er mit der Finsternis verschmelzen.

Er schaute um sich, die letzten Spaziergänger verließen den Platz.

Zeit zu verschwinden!

Über die linke Treppe seitlich des gewaltigen Reliefsockels stieg er hinauf zur Rückseite des Denkmals. Er erreichte ein Plateau, das von einer im Halbkreis angeordneten Kolonnade umschlossen war.

Der Ort der Deutschen Einheit.

Wandscheiben wechselten sich mit Öffnungen ab, von quadratischen Säulen unterbrochen. Er beugte sich über die massive Brüstung und warf einen Blick in die Tiefe: Gemauerte Rundbögen stützten auf eine schräg nach außen neigende Sockelmauer. Aus jedem Wandteil zwischen den Rundbögen ragten offene Betonrinnen als Wasserspeier heraus. Am Fuße der Mauer wuchsen Sträucher und Gestrüpp.

Er schauderte. Gottbewahre, wenn ich da hinunterspringen müsste! 

Im schwachen Licht der Straßenlaternen erspähte er in der Ferne die schwere Mauer aus der Kreuzritterzeit. Dahinter stieg die graue Silhouette der Basilika Sankt Kastor in den nächtlichen Himmel.

Er wandte sich dem Standbild zu. Es wuchs aus einer kreisrunden Treppenanlage empor, die bis in die Kolonnaden reichte. Eckpfeiler aus gewaltigen Basaltquadern spalteten die Stufen wie der Bug eines Kriegsschiffes die herantosenden Wellen. Er bestieg die mittlere, von zwei Absperrketten gesäumte Treppe. Eine eiserne Gittertür versperrte den Zugang zu einer Wendeltreppe, die zum höher gelegenen Bunker führte. Ohne die Taschenlampe zu benutzen, ertastete er im Dunkeln den Weg zwischen den klobigen Säulen hindurch. Hinter der vorderen Säulenreihe auf der Seite des Schutzengels – man kann nie wissen – breitete er die Decke auf dem Boden aus.

Von dort richtete er die Kamera für die größte Entfernung auf die Bugspitze des Deutschen Ecks. Das Bild schien ausreichend hell. Nach diesen Vorbereitungen stopfte er den Rucksack hinter seinen Rücken an die Säule und lehnte sich dagegen. 

Das Warten begann.

 

Plötzlich fuhr er hoch, fast wäre er eingenickt. Von unten drang Stimmgeräusch zu ihm herauf. Ein Mann und eine Frau schlenderten eng umschlungen über das vordere Plateau. Sie bestiegen die unterste Treppe, bis er sie aus den Augen verlor. Er eilte zur Rückseite der Kolonnaden. Die Stimmen näherten sich. Sie hatten jetzt den Platz der Deutschen Einheit erreicht.

Er ahnte, dass sie nicht zum Geschichtsunterricht hierher gekommen waren.

Das Pärchen stieg die seitliche Treppe zum Mausoleum hoch. Rasch zog er sich zwischen den Säulen zurück, verstaute Decke und Kamera, schulterte den Rucksack. Geräuschlos schlich er zur gegenüberliegenden Treppe. Er sah noch, dass die zwei zwischen den Säulen verschwanden. Vorsichtig glitt er bäuchlings die Treppe so weit hinunter, dass er knapp über die oberste Stufenkante hinweg sehen konnte.

»Meinst du, der Kaiser entrüstet sich?«, kicherte die Frau. »Er wohl nicht, beim Engel bin ich mir da nicht so sicher«, kam die Antwort. Dem Rascheln von Kleidungsstücken folgte bald ein rhythmisches Gestöhn. Lauter und lauter, ein erlösender Schrei des Mannes, ein Seufzer der Frau, dann herrschte Ruhe.

»Du hattest es aber eilig«, bemerkte sie.

Das Klicken eines Feuerzeugs, Rauch zog zu ihm herüber.

Er warf einen Blick zwischen die Säulen. Sie standen jetzt an der Stelle, wo er soeben fast eingeschlafen war. Von da führte der kürzeste Weg hinaus zur Treppe genau dorthin, wo er lag.

Vorsichtig richtete er sich auf, die beiden Nachtschwärmer ständig im Blickfeld. Behutsam tastete er sich an der Außenseite der Kolonnaden vor. An der Wendeltreppe hockte er sich hin, beobachtete, wie sie nacheinander die seitliche Treppe hinabstiegen, bis sie im Dunkel verschwanden. 

Er setzte sich wieder an seinen alten Platz hin. Der Duft von parfumgetränktem Zigarettenrauch hing schwer in der Luft.

Er sah auf die Uhr: Viertel vor zwei. Der Zwischenfall hatte ihm einen Adrenalinschub gegeben. Er war jetzt hellwach.

 

Eine Stunde verging. War er umsonst hergekommen? Als er sich eine vierte Tasse Kaffee einschenken wollte, geschah etwas auf der Moselseite. Zwei Gestalten traten aus der Düsternis hervor. Er richtete die Kamera auf sie. Vor der Begrenzungsmauer blieben sie stehen. Er zoomte sein Objektiv ein auf das Gesicht des Mannes, der ihm zugewandt war. Er trug einen dunklen Schal um den Hals geschlagen.

Sein Atem stockte. Das Gesicht kam ihm bekannt vor! Er studierte die Gesichtszüge genauer. Kein Zweifel, er kannte ihn. Er schoss ein paar Bilder.

Die zweite Person hatte ihm den Rücken zugewandt. Er trug geschorenes weißes Haar über einem hochgeschlagenen Kragen eines langen Mantels, der fast den Boden berührte. 

Die zwei unterhielten sich.

Motorgeräusch drang von der Rheinseite herüber. Ein schwarzer Mercedes erschien, fuhr langsam auf den Platz und hielt vor der Treppe an. Ein Mann stieg aus dem Fond aus, in der linken Hand ein Aktenkoffer.

Die Kamera zoomte heran. Er erstarrte. Auch dieses Gesicht kannte er aus grauer Vergangenheit: hohe Stirn, buschige Augenbrauen, dunkles, mittellanges Haar, nach hinten gekämmt, glitzernd von der Pomade, den offenen Kragen mit der schweren Goldkette um den Hals. Ein Warnsignal ertönte in seinem Kopf, instinktiv zog er sich tiefer in die Dunkelheit zurück.

Der Neuankömmling ging auf die Wartenden zu, nickte kurz. Der Mann mit dem Schal kramte eine Taschenlampe hervor und gab ein Signal in Richtung Mosel. Wenige Minuten später drang ein dumpfes Geräusch über das Wasser. Ein kleines Motorboot näherte sich der Stelle, wo eine breite Treppe zur Uferpromenade des Deutschen Ecks hinabführte. 

Pomade gab ein Handzeichen, worauf zwei Männer aus dem Wagen stiegen und die Treppe zur Moselpromenade hinunter hasteten. Ein Seil wurde herübergeworfen, einer der Männer befestigte es an einem Fahnenmast. Aus dem Boot wurde ein großer Behälter hinübergereicht. Zu zweit trugen sie ihn die Treppe hinauf, während der Wagen heranfuhr. Der Kofferraumdeckel sprang auf. Die Männer wuchteten den Behälter hinein, öffneten ihn und prüften den Inhalt. Nach einer Weile kam ein Handzeichen in Richtung der Gruppe, der Kofferraum wurde zugeklappt, die Bootsleine gelöst. Das Schiffsgeräusch schwoll an, verringerte sich, bis es sich im Geräusch der Nacht unterging. Die zwei Helfer stiegen wortlos ein, der Mercedes fuhr los. Die Aktion hatte keine fünf Minuten gedauert.

Der Aktenkoffer wechselte den Besitzer, die drei Männer unterhielten sich kurz. Ein Händedruck, dann verließen die beiden, die zu Fuß gekommen waren, den Ort.

Er versuchte, vom Weißhaarigen noch ein paar Bilder zu schießen, bekam ihn nur wenige Sekunden von der Seite zu sehen. Er schaute den Männern durch die Kameraoptik nach, bis sie aus dem Blickfeld verschwunden waren.

Ein Gefühl von Unbehagen beschlich ihn: Nur ein kurzer Moment hatte der Anblick des weißhaarigen Mannes in seinem tiefsten Inneren etwas aufgewühlt.

Sein Blick richtete sich auf den Mann, der am Fuß der Treppe stand. Pomade zündete eine Zigarette an, er schien es nicht eilig zu haben zu verschwinden.

Erneut fuhr ein Auto auf den Platz und hielt vor der Mitte der Treppe an. Zwei Männer stiegen aus. Ein kurzer Blick zu dem Rauchenden, dann liefen sie wortlos an ihm vorbei und bestiegen die Treppen, ein Mann auf jeder Seite des Denkmals.

 

Die kommen zu mir herauf!  Pomade musste etwas bemerkt und seinen Männern ein Zeichen gegeben haben. Er saß in der Falle!

Hastig entfernte er die Speicherplatte aus der Kamera und steckte sie in die Tasche des Anoraks. Er hob den Rucksack auf und schlich durch die Säulen zur Rückseite. Sie hatten das hintere Plateau erreicht. Er fokussierte den Blick auf ihre Hände, erkannte aber im Halbdunkel nicht, ob sie Waffen trugen.

Der Mann links blieb stehen, gab ein Handzeichen. Darauf bestieg der andere die Stufen auf der gegenüberliegenden Seite.

Wohin? Er zog sich hinter eine der inneren Säulen zurück, nahm die schwere Taschenlampe aus dem Rucksack. Schritte kamen auf der Treppe zu ihm herauf. Der Mann war fast oben.

Mit pochendem Herzen wartete er, bis der andere in den Säulengang an ihm vorbei trat. Dann schlich er um den Pfeiler herum und hob die Taschenlampe.

Als hätte er ihn erwartet, drehte der Mann sich blitzschnell um. Jetzt! Mit Wucht knallte er ihm die MAG-LITE auf den Kopf, fasste ihn gleichzeitig mit dem linken Arm um den Körper und ließ ihn geräuschlos zu Boden sinken. Eine Pistole mit Schalldämpfer steckte in einem Schulterholster unter seiner Jacke. Er nahm sie heraus.

Bewegung am anderen Ende des Ganges. Eine Silhouette. Neben ihr schnellte etwas hoch.

Keine Zeit zum Zielen! In einem Reflex sprang er hinter eine Außensäule, knallte gegen einen Eisenstab, der verhinderte, dass er hinunterstürzte. Ein Geräusch wie von einem springenden Sektkorken, etwas zischte an ihm vorbei. Er sprang über die Eisenabsperrung auf das tiefer gelegene Podest, warf sich auf den Rucksack, verlor die Waffe, und rutschte kopfüber die Stufen hinunter. Er federte den Aufprall ab, sprang auf. Während rechts und links von ihm Kugel einschlugen, sprintete er geduckt über das Plateau zur Kolonnade. Ein stechender Schmerz, als ein Projektil seine rechte Wade streifte, dann war er an der Balustrade. Ohne zu zögern warf er den Rucksack über die Brüstung, schwang sich selbst hinüber auf den dahinterliegenden Wasserspeier. Kein Sekundenbruchteil zu spät. Mehrere Kugeln schlugen an der Stelle, wo er soeben noch gestanden hatte in die Mauer. Vom Wasserspeier herunterhängend, ließ er sich fallen. An der schrägen Mauer rutschte er bäuchlings nach unten, seine Hände schrammten über die Ziegelsteine, Kugeln zischten an ihm vorbei. Er landete im Gestrüpp, sprang auf. Weg hier! Adrenalin pumpte den Schmerz weg. Er rannte über die Straße, an der über ihm ragenden mittelalterlichen Mauer entlang in Richtung Kastorkirche.

Hinter ihm Schreie, rechts von ihm Scheinwerferlicht, ein Auto hielt an, Männer sprangen heraus.

Schneller! Seine Beine rotierten unter ihm, die gummibesohlten Turnschuhe trommelten ein lautloses Staccato auf das Pflaster, einem fliegenden Schatten gleich. Doch der Schutz der Mauer währte nicht lange. Vor ihm tauchte die graue Masse der Basilika aus der Dunkelheit auf. Die Mauer endete. Weiter! Dicht an der Außenwand der Kirche entlang, am Hauptportal vorbei. Während er rannte, überlegte er fieberhaft, wohin? Zum Moselufer konnte er nicht, dort würden sie ihm den Weg abschneiden. Er wählte den Weg nach links zum Rheinufer, den Fußweg hinunter, die Südseite der Kirche entlang. Vor ihm tauchte ein Parkplatz auf, dahinter das an beiden Rändern mit schweren Ahornbäumen besäumte Konrad-Adenauer-Ufer. Der Hall rasch nähernder Schritte trieb ihn über den Parkplatz. Trotz der nächtlichen Uhrzeit parkten hier mehrere Autos. Er sprang hinter einen Kastenwagen, hockte sich hin und lauschte. Sekunden später rannten zwei Männer an ihm vorbei.

Vom Rheinufer her näherte sich Motorengeräusch. Er kroch unter den Kleinlaster, hörte ein Auto anhalten. Jemand stieg aus, ein Lichtkegel wanderte über den Parkplatz, verharrte kurz am Kleinlaster. Das Licht erlosch, die Autotür schlug zu, das Fahrzeug fuhr weiter. Er wartete noch einige Minuten, dann rollte er unter dem Wagen hervor.

Er spürte den Angreifer, noch bevor er ihn sah. Instinktiv drehte er sich in einer Blitzreaktion auf den Rücken, zog die Knie an und katapultierte seine Füße nach oben. Sie trafen den Mann im selben Moment, als der seine Waffe auf ihn richtete. Die Hand mit der Pistole schlug gegen den Lieferwagen, ein gedämpfter Schuss löste sich. Mit einem Ruck zog er seinen Gegner am Mantel herunter. Der Kopf des Mannes schlug dumpf gegen den Asphalt. Regungslos blieb er liegen.

Schwer atmend hob er die Pistole auf und betrachtete sie: eine schallgedämpfte Beretta 9 mm, italienisches Fabrikat. Er sicherte sie und steckte sie in den Hosenbund. Horchte. Als er nichts Verdächtiges hörte, kroch er zwischen den Autos hervor und spähte über den Parkplatz, die Uferstraße. Menschenleer. Er blickte zur anderen Rheinseite hinüber. Hoch oben am Felsen strahlte die Festung Ehrenbreitstein. Hinter ihr im Osten hellte der Himmel bereits auf, die Nacht zog sich zurück. 

Zeit für mich, das Gleiche zu tun.

Ein Blick auf die Uhr: kurz vor vier. Im Schutz der Bäume lief er die Uferstraße hinunter und bog auf die Rheinstraße in die Innenstadt, während er nach verdächtigen Fahrzeugen Ausschau hielt. Die Stadt schien verlassen, außer ihm und einer Handvoll Mafiakillern.

Seine Gedanken kehrten zurück zu den Geschehnissen, die er von den Kolonnaden aus beobachtet hatte. Eine geheime Übergabe, noch dazu am Deutschen Eck! Getreu dem Motto: dort, wo du es am allerwenigsten erwartest ... Der Gipfel der Dreistigkeit! Es benötigte nicht viel Fantasie, um zu erahnen, worum es sich bei der Ware handelte. Erst recht nicht angesichts des Mannes, dessen Schergen ihn jagten: Marco Andretti, Spitznahme Aurelio, der Goldkette wegen, die er immer trug; einer der gefürchtetsten Drogenbosse Deutschlaands! Dass er persönlich einen Geldkoffer überreichte, zeigte, dass es sich um eine überaus große Geld- und Drogenmenge handelte. Bei dem Umfang des Deals fragte er sich, weshalb lediglich eine Observation angeordnet worden war. Aber das war Sache seines Auftraggebers, es ging ihn weiter nichts an. 

Anders der Mann mit dem Schal: Der interessierte ihn! Weshalb war der Leiter einer Seniorenresidenz in Wiesbaden in Drogengeschäften verwickelt? Und wer war der Weißhaarige, den er nie zu Gesicht bekommen hatte? Woher kamen die beiden? Zu Fuß? Er hatte kein Auto gehört. Fragen, auf die er keine Antworten hatte. Noch nicht.

Am Jesuitenplatz schlug er den Weg Richtung Liebfrauenkirche ein. Er befand sich jetzt in der Fußgängerzone, wo Fahrverbot herrschte. Er zweifelte, ob Mafiakiller sich daran halten würden.

Er behielt recht. Kaum hatte er die Kirche erreicht, hörte er hinter sich ein Auto in die Straße einbiegen. Er stürzte sich in die nächste Gasse, während der Fahrer beschleunigte. In Gedanken zählte er die Sekunden, die seine Verfolger bis zur Einmündung benötigten. Dann drehte er sich um, entsicherte die Beretta und zielte mit beiden Händen. Als das Licht der Scheinwerfer in die Straße einbog, feuerte er zwei Schüsse ab. Die Frontscheibe zersprang, das Fahrzeug kam mit einem Ruck zum Stehen. Männer sprangen heraus. Er rannte die Pflastersteine hinunter, während über ihm vereinzelt Fenster erhellten. Vor ihm tauchte der Florinsmarkt auf. Das Auto stand noch dort, wo er es geparkt hatte.

Er riss die Fahrertür auf, warf die Waffe auf den Beifahrersitz und rutschte hinters Lenkrad. Während er die Zündschlüssel umdrehte, wagte er einen Blick zurück. Die Verfolger kamen über den Marktplatz auf ihn zu gerannt, die Arme in unmissverständlicher Weise vor sich ausgestreckt. Im selben Moment, als der Motor ansprang, zerfetzte eine Kugel das hintere Seitenfenster. Glassplitter trafen seinen Hinterkopf, Blut kroch den Nacken hinunter. Er duckte sich und gab Vollgas. Zwei weitere Kugel trafen das Blech, während der Citroen nach vorne schoss. Den Blick knapp über dem Armaturenbrett, peitschte er das Fahrzeug mit heulendem Motor die enge Straße hinunter.

Am Ende der Burgstraße richtete er sich auf, warf einen Blick in den Rückspiegel. Scheinwerfer blitzten auf. Er bog nach links, durch eine rote Ampel auf die Kreuzung, wirbelte das Lenkrad nach rechts. Das Heck des Wagens scherte aus, er konnte kaum gegenlenken und einem Fahrzeug ausweichen, das ihm laut hupend entgegenkam. Mit quietschenden Reifen beschleunigte er in die nächste Straße stadtauswärts, hinter ihm immer noch die Lichter der Verfolger.

Mit Vollgas über die Rheinbrücke setzte er den Blinker nach rechts, als wollte er abbiegen. Kurz vor der Ausfahrt löschte er Blinker und Scheinwerfer, riss in letzter Sekunde das Lenkrad herum. Haarscharf verfehlte er die Leitplanke und raste blind in den Tunnel. Er konnte nicht sehen, ob der Wagen hinter ihm abbog, oder nicht. Fast schrammte er die Tunnelwand, als er in der Linkskurve zu weit nach außen driftete. Heraus auf die Schnellstraße warf er ein erneuter Blick in den Rückspiegel: Ein Fahrzeug setzte ihm aus dem Tunnel nach. Immer noch ohne Licht, missachtete er die Geschwindigkeitsbeschränkung in Ehrenbreitstein. Nach der Ortsdurchfahrt wurde die Straße breiter. Er trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch, der Auspufflärm des 200 PS starken V6 dröhnte ohrenzerreißend durch die zertrümmerte Scheibe. Hinter ihm kamen die Scheinwerfer näher. 

Plötzlich tauchte vor ihm ein begrünter Seitenstreifen auf. Er reagierte sofort, vollzog eine Vollbremsung und lenkte über den Straßenrand. Noch beim Ausrollen öffnete er die Beifahrertür und tauchte mit der Waffe in der Hand kopfüber in den Graben neben dem Grünstreifen. Mit der Pistole im Anschlag richtete er sich auf. Im gleichen Moment raste das Fahrzeug an ihm vorbei und verschwand in der Nacht. Er senkte die Waffe und atmete tief durch. Seine Verfolger schien er abgeschüttelt zu haben.

Er wartete einige Minuten. Nachdem er sicher war, dass kein Auto ihm folgte, tauschte er die falschen Nummernschilder gegen die richtigen aus, und fuhr los. Zurück auf der Schnellstraße lehnte er sich zurück. Mission accomplished, fuhr es ihm durch den Kopf. Noch hatte er nicht alle seine früheren Fähigkeiten verloren. Doch es war knapp gewesen. Während er beschleunigte, ließ ihn ein Gedanke nicht in Ruhe: Die Vorgehensweise der beiden Männer am Denkmal deutete auf ein Vorabwissen hin. Ein Wissen, dass jemand sie dort oben beobachtet hatte. Pomade musste einen Tipp bekommen haben. Aber von wem?

An der Autobahnauffahrt fuhr er auf die A 44 nach Osten. Am Horizont fing das Morgenrot an, dem neuen Tag Leben einzuhauchen.