Angst

 

Galiläa, Israel, Freitag, 2. November 2012

 

Der alte Mann schleppte sich den steilen Pfad hinauf. Trotz kalter Jahreszeit in der höchsten Region Israels im Norden Galiläas schwitzte er. Seine Schritte wurden schwerer, je näher er seinem Ziel kam. Nicht nur der Anstrengung wegen. Zum wiederholten Mal blieb er stehen, stützte sich auf seinen Stab und drehte sich um. Er kniff die Augen zusammen gegen die tief stehende Sonne und spähte in die Richtung, aus der gekommen war. Im schwindenden Licht warfen die Büsche, die den Pfad säumten, lange Schatten. Unmöglich für ihn zu erkennen, ob ihm jemand folgte.

Er richtete den Blick wieder nach vorne, wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. Dann holte er tief Luft und setzte den Anstieg fort. Bis oben war es nicht mehr weit.

Als er die Anhöhe erreichte, schickte die Sonne ihre letzten Strahlen über den Gipfel des Berges Meron. Nach Süden hin erstreckte sich die weite Ebene Galiläas, in der Ferne glitzerte der See Genezareth. An seinem Ufer erblickte er die Stadt Kapernaum, wo der Messias mehrere Jahre verbracht hatte, bevor er mit seinem Gefolge nach Jerusalem aufbrach.

Er musterte das Gelände. Mit zitternder Hand zog er die Skizze aus der Tasche. Das vergilbte Pergament zeigte Altersspuren von mehr als sieben Jahrhunderten. Dagegen schien es ihm, als hätte die Zeit den Ort, wo er sich jetzt befand, nie berührt.

Er vergewisserte sich erneut, dass er den richtigen Weg genommen hatte. Das Plateau fiel nach Süden und Westen leicht ab, stieg aber nach Osten an. Er folgte den Hinweisen auf der Skizze, drehte sich nach Westen und ging langsam den flachen Hang hinunter, während er dabei die Schritte zählte.

Nach dem letzten Schritt drehte er sich um, sodass er zum gegenüberliegenden Hügel nach Osten schaute.

Jetzt konnte er nur warten.

Es hatte fast den ganzen Tag geregnet und mit jeder Stunde sank seine Hoffnung, noch am gleichen Tag den Aufstieg schaffen zu können. Doch er hatte Glück gehabt; am späten Nachmittag riss der Himmel auf und die Sonne, ohne die er die Stelle nicht finden könnte, brach durch.

Während die goldene Scheibe allmählich hinter dem Berg verschwand, kroch der Schatten langsam den Hügel nach Osten hinauf. Er hoffte, dass er die Schrittlänge richtig gewählt hatte.

Dann sah er ihn. Kurz bevor der Schatten den ganzen Hügel im Osten mit seinem dunklen Schleier überzog, beleuchtete ein letzter Sonnenstrahl einen einzelnen Felsen. Nur wenige Sekunden, dann war auch er in Dunkelheit gehüllt. Jetzt verstand er, weshalb er sich vom Hang hatte entfernen müssen. Er hätte den Stein nie gesehen. So schnell er konnte, hastete er zurück und stieg den steilen Hang hoch.

Er erreichte eine zweite Hochebene und ruhte sich, auf seinen Stab gestützt, aus. Als seine Atmung sich beruhigt hatte, kniete er vor dem Felsen nieder, den die letzten Sonnenstrahlen erleuchtet hatten. Aus seinem Mantel nahm er eine Taschenlampe, womit er den Stein beleuchtete. Seine Augen suchten die Oberfläche nach einer Markierung ab, während seine Hand vorsichtig den Stein abtastete.

Er musste nicht lange suchen. In der Mitte des Steines fand er die Inschrift. Sie war trotz der starken Verwitterung gut zu erkennen und bestand aus drei Buchstaben:

M v G

Voller Ehrfurcht flüsterte er den Namen, dessen Initialen hier eingeritzt waren: Manfred von Gerbrand.

Er erhob sich und drehte sich um. Obwohl die Sonne verschwunden war, gab es noch genug Abendröte, um das Gelände nach dem abzusuchen, was auf der Karte eingezeichnet war.

Dann sah er sie: die Steine im Kreis. Nicht weit vom Felsen entfernt.

Behutsam schritt er den Kreis entlang. Aber wo befand sich der eigentliche Beweis für das, wovon in der Papyrusschrift die Rede war?

Sein Blick fiel auf einen hellen Stein in der Mitte des Kreises. Seine Pyramidenform unterschied ihn von den anderen Steinen.

Er zögerte. Das Betreten einer Grabstätte war in Israel verboten, doch er hatte keine Wahl. Er stieg in den Zirkel und kniete vor dem Stein nieder. Mit der Taschenlampe beleuchtete er alle drei Flächen der Pyramide. Sie waren stark verwittert und er konnte darauf nur mit Mühe eine Schrift erkennen. Aramäisch! Auf jedem der drei Seiten des Steines war ein Wort eingraviert. Um die ganze Schrift zu lesen, musste er um den Stein herumgehen. Er kannte einige aramäische Schriftzeichen, wusste, dass sie nur Konsonanten darstellten. Er hatte Mühe, die drei Wörter zu entziffern. 

Als ihn die Erkenntnis traf, erstarrte er.

Minutenlang verharrte er vor dem Stein. Dann richtete er sich stöhnend auf, bekreuzigte sich mit zitternder Hand und schritt, sich schwer auf den Stab stützend, aus dem Kreis der Steine heraus. Er warf einen letzten Blick zurück und verließ den Ort.

Auf dem Weg hinunter strauchelte er mehrere Male. Als er endlich die untere Ebene erreichte, blickte er schwer atmend zum Himmel empor, auf ein Zeichen hoffend, einen Wink des Allmächtigen. Doch er sah nur die Schwärze der herannahenden Nacht.

 

Auf der Hochebene löste sich aus der Dunkelheit ein Schatten. In einen langen Mantel gehüllt, näherte sich ein Mann dem Steinkreis. Wie der Alte betrat er ihn und hockte sich vor dem Pyramidenstein hin. Er zog den Mantel aus und breitete ihn über sich und den Stein. Dreimal blitzte die Kamera. Dann zog er den Mantel wieder an, stieg den Hang hinunter und folgte dem Alten auf dem Pfad.

 

 

 

Teil 1 – Koblenz

 

Jesus sprach: »Wenn sie nicht die Macht hätten, würden sie auch nichts vorbringen.

Denn ein jeder hat Macht über seinen Mund, Wahres und Falsches zu reden.«

 

(Nikodemus Evangelium, 2.2)

 

 

 

1.   Toronto, Royal Ontario Museum

Montag, 5. November 

 

Für Helen Schumann begann der erste Montag in November so trübe wie das Wetter. In der Nacht hatte es geschneit. Sie hasste Schnee. Im Grunde genommen hasste sie den Winter. Deshalb war Kanada nicht gerade das klimatisch geeignetste Land für sie. Aber sie liebte Toronto, allem voran das Royal Ontario Museum, das von allen Mitarbeitern nur ROM genannt wurde. Ihre Arbeitsstätte. Zumindest was die Arbeit drinnen betraf.

Jetzt wäre sie lieber draußen, bei einer archäologischen Ausgrabung im Nahen Osten, nicht nur der Wärme wegen. Ein frommer Wunsch: Die zerstörerische Kraft, die aus dem Arabischen Frühling hervorgebrochen war, hatte die archäologische Weiterarbeit jäh beendet. Kämpfe zwischen den Truppen des syrischen Diktators Baschar al-Assad und der FSA, der  Freie Syrische Armee, gefährdeten die Sicherheit der Archäologen. Aus Palmyra in Syrien mussten sie und ihre Kollegen abziehen. Auch die Arbeiten in Nordafrika wurden eingestellt und in Irak lief bereits seit Anfang der Neunzigerjahre nichts mehr.

Für Helen hieß das: Däumchen drehen, frieren.

Sie parkte ihr altes Nissan Cabrio hinter dem Crystal, dem Anbau des Museums. Heute schien ihr der Anblick der von den gläsernen Felsen aufgesprengten Ziegelfassade bedrohlicher als sonst.

Sie betrat das Museum durch den Hintereingang. Auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz im vierten Stock verharrte sie an der Stelle, wo am 15. November 2002 ein Objekt weltweites Aufsehen erregt hatte: ein Ossuarium mit der aramäischen Inschrift

Ya´akov bar-Yosef akhui di Yeshua. 

Jakob, Sohn des Josef, Bruder des Jesus! Sie hatte damals die Ausstellung organisiert und es geschafft, den Knochenkasten des so zügig nach Toronto bringen zu lassen, dass die IAA, die Israel Antiquities Authority, die das verhindern wollte, zu spät reagierte. Leider wies der Sandsteinkasten einen entscheidenden Makel auf: Die Knochen waren entfernt und er war fein säuberlich gereinigt worden. Nicht zum ersten Mal stieg Wut in ihr hoch beim Gedanken an die Ignoranz der Grabdieben.

Kaum hatte sie die Tür ihres Bür geschlossen, da summte das Telefon. Jeffrey wollte sie sprechen. Sofort. Ihre Hand zitterte leicht, als sie den Hörer auflegte. Er hatte wohl auf sie gewartet. Seiner Stimme nach zu urteilen, verhieß das nichts Gutes.

 

Sie betrat das Büro ihres Chefs.

»Guten Morgen, Helen. Wir müssen reden, setz dich.«

Sie nahm auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz.

»Jetzt ist es offiziell. Unsere Abteilung wird Ende des Jahres geschlossen.«

Jeffrey Cumberland war kein Mann langer Einführungsreden. Das schätzte sie an ihm. Für gewöhnlich.

Sie schluckte. »Und wie soll es weitergehen? Muss ich mir einen neuen Job suchen?«

»Wenn du hier nicht verblöden möchtest, ja. Das Museum muss sparen, es könnte zwar sein, dass man dir eine andere Stelle anbietet, dann aber weniger gut bezahlt. Es tut mir leid, Helen, du weißt, wie sehr ich deine Arbeit schätze. Und deinen Ehrgeiz. Willst du meinen Rat? An deiner Stelle würde ich mich in Deutschland bewerben. Wie ich gehört habe, hat das Senckenbergmuseum in Frankfurt einige Stellen ausgeschrieben. Du bist deutscher Abstammung, das sollte also nicht allzu schwierig werden.«

Sie schüttelte den Kopf. »Paläontologie ist nicht meine Stärke, das weißt du doch. Und ich kann mit Dinosauriern nichts anfangen. Aber danke für den Tipp.«

Er nickte als Zeichen, dass die Unterhaltung zu Ende war.

Sie erhob sich, an der Tür drehte sie sich nochmals um. »Was wirst du tun?«

»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht lasse ich mich frühpensionieren.«

»Das glaube ich dir nicht, du bist erst fünfundfünfzig.«

»Er lachte. Ein bisschen zu jung, findest du?«

»Für einen Archäologen? Allerdings.« Sie schloss die Tür.

Der Tag fängt richtig gut an!

 

 

2.    Eine verheißungsvolle E-Mail

 

Helen schaltete den Rechner ein und prüfte ihr Postfach auf eingegangene E-Mails. Eine aus Deutschland zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Absender war der Bibliothekar der Abtei Sankt Kastor in Koblenz. Verwundert nahm sie den Inhalt zur Kenntnis:

 

Sehr geehrte Frau Dr. Schumann,

 

Sie haben in 2002 die Ausstellung im Ontario Museum organisiert, in der das Ossuarium des Herrenbruders Jakobus ausgestellt wurde. Außerdem sind Sie bekannt als äußerst engagierte Spezialistin für frühchristliche Schriften, weshalb ich in folgender Angelegenheit an Sie herantrete:

Bei Renovierungsarbeiten in der Basilika Sankt Kastor in Koblenz wurde eine Papyrusschrift aus der frühen Christenzeit gefunden. Sie war vermutlich seit dem Jahr 1291 verschollen. Der Text ist auf Aramäisch. Mit meinen bescheidenen Kenntnissen der aramäischen Sprache konnte ich dem Text entnehmen, dass es sich um einen Zeitzeugenbericht über den Herrn Jesus handelt. Verfasst von einer gewissen Miriam.

Im Internet habe ich gelesen, dass Sie nach alten Schriften mit eben solchen Berichten forschen.

Deshalb meine ich, dass es interessant für Sie wäre, nach Koblenz zu kommen, um sich die Schrift mal genauer anzuschauen und, falls Sie die Zeit dazu haben, sie zu übersetzen. Ich würde mich über Ihre sachkundige Mithilfe sehr freuen und sage Ihnen einen Arbeitsplatz, eine kostenfreie Unterkunft und Verpflegung zu. Sie müssten allerdings die Reisekosten selbst übernehmen, dazu fehlen uns leider die finanziellen Mittel.

Falls es Sie interessiert und Sie beabsichtigen, zu uns zu kommen, schicken Sie mir eine Bestätigungsmail an die unten angegebene Adresse.

 

Hochachtungsvoll,

Bernhard Aßmann

Bibliothekar der Abtei Sankt Kastor.

 

Hellen rieb sich die Augen, las die E-Mail erneut.

Kein Traum! Die muss ich Jeffrey zeigen!

Sie nahm ihren Laptop, verließ ihr Büro und lief ein zweites Mal den Gang hinunter. Etwas schneller als vorher.

Ohne zu klopfen, stürzte sie ins Zimmer. »Jeffrey, diese E-Mail habe ich gerade bekommen. Aus Koblenz in Deutschland.«

»Eine sehr aufregende Mail, deinem Verhalten nach zu urteilen. Schließ bitte die Tür.«

Helen tat es und stellte ihm den Laptop vor die Nase hin. »Lies!« 

Cumberland las sie und lehnte sich zurück.

»Da scheint jemand unbedingt zu wollen, dass du nach Koblenz kommst. Warum nicht? Könnte interressant sein, oder?«

»Und wenn es ein Fake ist?«

»Warum sollte jemand, der sich als Bibliothekar der Abtei St. Kastor ausgibt, dich täuschen wollen? Du bist eben DIE Spezialistin für aramäische Schriften. Ich hoffe, dass dieses Schreiben ernst gemeint ist. Der Fund solch einer Papyrusschrift könnte uns retten.«

Helen nickte. »Ja, daran habe ich auch gerade gedacht.«

Sie beäugte ihn. »Er schreibt, dass sie die Kosten nicht übernehmen können.«

Cumberland seufzte. »Wir zurzeit auch nicht, deshalb wirst du sie zunächst selbst übernehmen müssen, aber ich werde sehen, was ich tun kann, damit du sie erstattet bekommst. Okay?«

»Du gibst mir aber offiziell den Auftrag, die Sache zu untersuchen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht, sonst müsste ich eventuell die Kosten selbst übernehmen. Zunächst ist das also erst mal dein privates Projekt. Und wenn sich das alles doch als Fake erweist, nimmst du ein paar Tage Urlaub und erkundigst dich beim Senckenberg. Halte mich auf dem Laufenden. Viel Glück, Helen!«

 

Sie beantwortete die E-Mail und buchte einen Flug noch an gleichen Abend nach Frankfurt am Main. Dann sah sie auf die Uhr, kurz nach zehn. In Deutschland war es jetzt vier Uhr mittags. Sie suchte in ihrem Telefonverzeichnis die Nummer ihres Nennonkels Gregor Hanig.

Sie wählte. Nach dreimal Klingeln hob er ab.

»Helen? Das ist eine Überraschung. Was gibt mir die Ehre?«

»Ich fliege Sonntagabend nach Deutschland, um genau zu sein, nach Koblenz, habe dort beruflich zu tun, und wollte fragen, ob ich danach ein paar Tage zu dir kommen kann.«

»Mein Haus steht immer für dich offen, Helen, das weißt du. Aber ich fahre in Urlaub.«

»Den du natürlich auf der Stelle verschiebst.«

Er lachte. »Selbstverständlich, das würde ich sofort tun, aber ... ich fahre nicht allein.«

»Darf ich fragen, wie sie heißt?«

Er lachte. »Typisch Helen, immer direkt heraus mit der Sprache! Sie heißt Lena, Lena Solms. Sie war mal Opernsängerin.« 

»Was? Magdalena Solms? Von ihr habe ich gehört, die war weltberühmt! Wie bist du an die geraten?«

»Ist eine lange Geschichte, Helen. Erzähle ich dir ein anderes Mal.«

»Grrr. Du und deine Geheimniskrämerei! Du bist jetzt pensioniert, lieber Gregor, schon vergessen? Sei es drum. Wo fährst du ... ich meine, wo fahrt ihr hin?«

»Nach Rom.«

»Klar, zur besten Urlaubszeit. Wieso im Winter?«

»Dann sind dort nicht so viele Touristen.«

Helen lachte. »Da hast du allerdings recht! Danke, dass ich bei dir wohnen kann, ich weiß noch nicht wie lange, das wird sich noch ergeben.«

»Darf ich fragen, was dich so unverhofft nach Koblenz führt?«

»Angeblich ist dort eine Papyrusschrift aus der frühen Christenzeit gefunden worden. Sie ist auf Aramäisch und ich soll sie übersetzen.«

»Wow! Eine Papyrusschrift. Das freut mich für dich. Na, dann wünsche ich dir eine gute Reise und viel Erfolg in Koblenz. Wo genau?«

»Die Einladung kam vom Bibliothekar von Sankt Kastor.«

»Hmm, die Basilika Sankt Kastor. Klingt gut. Du musst mir unbedingt nach meiner Rückkehr davon berichten. Wir fahren nur zwei Wochen, vielleicht kannst du es so lange aushalten? Na dann, viel Glück.«

Sie verabschiedete sich, fuhr ins Museum, schrieb E-Mails und eine Abwesenheitsnachricht für die kommenden zwei Wochen. Klappte den Laptop zu, steckte ihn in eine Tragetasche und verließ das R.O.M.

Zuhause bat sie ihre Mutter, sie am Abend zum Flughafen zu fahren, und packte einen Koffer.

 

Auf dem Weg zum Flughafen fragte ihre Mutter: »Wie lange wirst du fort sein?«

»I don´t know, mommy, vielleicht zwei Wochen?«

»Besuchst du Onkel Gregor?«

»Er ist im Urlaub mit seiner Freundin, ich darf aber sein Haus benutzen, wenn ich möchte. Wusstest du, dass er eine Freundin hat? Sie war Opernsängerin!«

»Ja, er hat mal was erzählt. So, wir sind da.« Ihre Mutter parkte das Auto vor der Abflughalle.

Helen nahm ihren Koffer, verabschiedete sich von ihrer Mutter und ging zum Check-in.

Koblenz, here I come!

 

 

3.     Bibliothekar

 Dienstag, 6. November

 

Die Air Canada Boeing 773-300 setzte um Punkt 7.00 Uhr auf die Landebahn in Frankfurt am Main auf. Sie rollte bis zu ihrem Standplatz vor dem Terminal 2, das Geheul der Düsentriebwerke verstummte. Nachdem der Flugkapitän die Passagiere mit einem freundlichen we wish you a very pleasant stay in Frankfurt verabschiedet hatte, dauerte es noch fast eine Stunde, bis Helen ausgestiegen war, die Passkontrolle passiert und ihr Gepäck vom Karussell genommen hatte.

Sie folgte den Wegweisern zum Skytrain, der Pendelbahn, die hoch über dem Boden zwischen den beiden Terminals fuhr. Im Terminal 1 stieg sie die Rolltreppen hinunter in die unterste Ebene, wo sich der unterirdische S-Bahnhof befand. Sie löste eine Fahrkarte nach Wiesbaden, von wo aus sie den Zug nach Koblenz nehmen wollte, und setzte sich auf eine Bank auf dem Bahnsteig. Die Nacht war kurz gewesen, zum Schlafen war sie im Flugzeug kaum gekommen. Sie lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen.

 

»Wachen Sie auf, junge Frau!« 

Mit einem Schrecken fuhr sie hoch, als jemand ihr auf die Schulter klopfte. Eine ältere Dame stand vor ihr. »Das sollten Sie nicht tun, hier auf dem Bahnsteig einschlafen, nachher sind ihre Taschen und der Koffer weg. Wäre nicht das erste Mal, dass Leute im Schlaf beklaut würden.«

»Und der Zug nach Wiesbaden?« Nachdem sie sich gefasst hatte, fürchtete sie viel mehr, den Zug verpasst zu haben.

»Kommt gleich«, versicherte ihr die Dame mit einem Lächeln. »Bloß nicht wieder einschlafen.«

»Danke«, sagte Helen. Sie schaffte es, die Augen offen zu halten, bis der Zug einfuhr.

 

In Wiesbaden nahm sie den Schnellzug nach Koblenz. Vom Bahnhof brachte sie ein Taxi in ein Hotel auf der anderen Seite des Rheins, das sie von zu Hause aus gebucht hatte. Nachdem sie eingecheckt, ihren Koffer aufs Zimmer gebracht und sich frisch gemacht hatte, fuhr sie mit einem Taxi ins Stadtzentrum. An einem großen Platz vor der Basilika Sankt Kastor stieg sie aus. Einen Augenblick lang genoss sie in der späten Morgensonne den Anblick der schweren, im romanischen Stil errichteten Basilika. Helen hatte sich im Internet erkundigt: Sankt Kastor gehörte zu den ältesten Kirchen Deutschlands. Schwere Kriegsbeschädigungen aus dem Krieg zwischen den Stauferkönigen Otto IV. und Philipp von Schwaben am Ende des zwölften Jahrhunderts und aus dem Zweiten Weltkrieg hatten sie nicht zerstören können, immer wieder war sie aufgebaut worden. Ihr Blick wanderte hinauf zu den wuchtigen, siebenstöckig in den Himmel ragenden Zwillingstürmen. Dann ging sie zur Kirche und öffnete die schwere Eichentür des Eingangsportals, das zwischen den mächtigen Türmen wie eingeklemmt wirkte. Über einen quadratischen Vorraum betrat sie das Hauptschiff. Der Bibliothekar hatte ihr auf ihre Zusage geantwortet, dass sie in der Kirche nach ihm fragen sollte.

Ein älterer Mann war dabei, einen Stapel Papiere zu ordnen. Sie wandte sich an ihn: »Entschuldigen Sie, wo finde ich Herrn Aßmann, den Bibliothekar?«

Der Mann schaute sie durch eine Brille mit dicken Gläsern an.

»Haben Sie einen Termin?«

Bin ich hier in einer Anwaltskanzlei?

Sie beherrschte sich und reichte ihm ihre Visitenkarte.

»Ich bin Archäologin am Royal Ontario Museum in Toronto. Herr Aßmann hat mich eingeladen, hierher zu kommen.«

Dass der Grund ein altes Papyrusdokument war, sollte ich nicht erwähnen, hieß es. 

Der Alte warf einen Blick auf die Visitenkarte, sah sie nochmals an und gab die Karte zurück. »Folgen Sie mir bitte.«

Er ging vor zum Seitenportal und öffnete die Tür. Draußen deutete er mit der Hand über ein Blumenbeet, das in ein Rechteck gefasst war und von einem mit hellen Platten belegten Fußgängerweg gesäumt wurde.

»Gehen Sie um das Beet herum und folgen Sie dem Weg dort drüben in Richtung der Straße. Gehen Sie durchs Tor. Gegenüber steht ein altes Gebäude, das ist die Pfarrei Sankt Kastor. Klingeln Sie und fragen Sie nach Herrn Aßmann.«

Helen bedankte sich und lief den Weg hinunter zur Straße.

An der Tür klingelte sie. Ein Mann in einer hellgrauen Mönchskutte öffnete die Tür. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig.

»Was wünschen Sie?«

»Mein Name ist Helen Schumann, ich bin mit Herrn Aßmann verabredet.«

»Der steht in persona vor Ihnen. Willkommen in Sankt Kastor, Frau Doktor Schumann.« Er trat zur Seite. »Treten Sie bitte ein, wollen Sie ablegen?«

Er nahm Helens Mantel und hing ihn in eine Garderobe.

»Wir gehen gleich in die Bibliothek, folgen Sie mir nach oben. Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Ich habe gerade einen frischen gemacht.«

»Ja, gerne«, antwortete sie, während sie dem Bibliothekar die Treppe hinauf folgte.

»Früher war die Bibliothek im Erdgeschoss, aber nach dem letzten Hochwasser haben wir sie ein Stockwerk höher gelegt. Wir hatten Glück, wir konnten damals die kostbaren Bücher gerade noch rechtzeitig retten. Bitte sehr.« Er öffnete eine Tür und ließ sie vorgehen.

Sie betrat einen lang gestreckten, in gedämpftem Weiß gestrichenen Raum. An drei Wänden und in der Mitte reichten schwere, mit Glastüren geschlossene Bücherregale bis an die Decke. An der Fensterfront standen Lesetische aufgereiht.

»Milch und Zucker?«

»Nein danke, schwarz bitte.«

Er verschwand in eine kleine Kochnische und stellte wenig später zwei Tassen Kaffee auf den Tisch. Er setzte sich ihr gegenüber. 

»Das hier ist der Lesesaal. Aber nur für Bücher. Wir besitzen einige sehr alte Codices, die lagern wir aber nicht hier, sondern nebenan in einem klimatisierten Raum. Dort befindet sich auch der Papyrus.«

Helen, die vor lauter Aufregung fast platzte, trank einen Schluck.

Geduld, Helen, Geduld!

»Hmm, der Kaffee ist gut, besser als bei uns im Museum.«

»Danke sehr. Wenn ich fragen darf: Sie sind ohne Koffer unterwegs, haben Sie bereits ein Hotel gefunden?«

Was interessiert ihn mein Hotel?

»Ja, ich wohne in Diehls Hotel auf der anderen Seite.«

»Eine gute Wahl. Aber nIcht ganz billig.«

Helen hielt es nicht mehr aus. »Sie sagten, die Schrift sei auf Aramäisch? Kennen Sie sich mit der Sprache aus?«

»Ein wenig. Ich habe nur einen kurzen Blick darauf geworfen, wollte nichts beschädigen. In der Überschrift steht der Name Miriam, den habe ich gut lesen können.«

Miriam! Sie versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen.

»Wie gut erhalten ist die Schrift?«

»Erstaunlich gut. Der Papyrus war in einen Lederköcher eingerollt und in eine Holzkiste gesteckt. In den Deckel war ein Emblem aus zwei Buchstaben eingeritzt, von dem ich nicht weiß, für was es steht. Prior von Gerbrand hat mir erzählt, dass die Schrift im Jahr 1291 aus Akkon hierher gebracht wurde. Es ist anzunehmen, dass die Kiste im selben Jahr im mittleren Bereich des Nordturms der Basilika in die Innenwand eingemauert wurde. So war sie relativ gut gegen Feuchtigkeit geschützt.« 

Helen trank die Tasse aus. »Zeigen Sie mir jetzt bitte den Papyrus?«

»Na klar.« Auch Aßmann leerte seine Tasse und stellte beide auf die Anrichte in der Kochnische. »Kommen Sie.«

Er öffnete die Tür zum klimatisierten Raum. »Wir regulieren die Feuchtigkeit, sodass sie immer konstant ist, Winter wie Sommer«, erklärte er stolz. »Setzen Sie sich bitte drüben an den Glastisch?«

Aus einem Schrank, der nach einem Tresor aussah, entnahm er einen Kunststoffbehälter. »Als Erstes habe ich auf die Schnelle diesen zylindrischen Behälter gekauft mit einem Nippel und einer Pumpe, um darin ein Vakuum zu erzeugen. Die gibt es neuerdings für Lebensmittel, aber für den Papyrus funktioniert das auch ganz gut.«

»Sehr schlau«, sagte Helen.

Aßmann drückte auf den Saugnippel in der Mitte des Deckels, und Luft strömte mit einem Zischen ein. Dann nahm er den Deckel vom Köcher, entfernte vorsichtig die Papyrusrolle und legte sie vor Helen auf den Glastisch.

Sie öffnete ihre Tasche, nahm ein paar dünne weiße Handschuhe heraus und zog sie an. Dann platzierte sie die Rolle quer vor sich und rollte sie vorsichtig aus, sodass der Anfang der Schrift sichtbar war.

»Als ich hereinkam, habe ich einen Kopierer gesehen. Wäre es möglich, die Schrift zu kopieren? Dann wird die Papyrusrolle nicht beschädigt und Sie können sie wieder wegpacken.«

»Eine gute Idee. Kommen Sie!«

Sie verließen den Raum. Zurück im Lesesaal legte Helen den Anfang der Schriftrolle auf die Glasfläche des Kopierers und schloss die Abdeckung. »Ich ziehe die Rolle nach jeder Kopie vorsichtig weiter durch, dafür brauche ich beide Hände. Können Sie die Taste betätigen?«

»Wie viele Kopien wollen Sie? Farbe oder Schwarz-Weiß?«

»Mir reicht eine, aber eine Reservekopie wäre gut. Farbig wäre prima.«

»Zwei Kopien, DIN-A3, farbig. Okay«, sagte Aßmann. »Geht aufs Haus«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

Nachdem die Kopien erstellt waren, steckte Aßmann die Rolle zurück in den Köcher, schloss sie und saugte mit der Handpumpe ein Vakuum. Dann legte er Köcher und Handpumpe zurück in den Schrank im klimatisierten Raum und kehrte zu Helen in den Lesesaal zurück.

»Wie lange kann ich hier arbeiten, Herr Aßmann?«

»Solange Sie wollen. Ich bin aber nur bis achtzehn Uhr da.« Er löste einen Schlüssel aus seinem Schlüsselbund und gab ihn ihr. »Für Sie.«

»Das ist aber nett! Soll ich ihn in den Briefkasten werfen, wenn ich gehe?«

»Sie brauchen ihn erst wieder abzugeben, wenn Sie hier ganz fertig sind.«

»Danke! Da fällt mir aber noch was Wichtiges ein. Etwas ... Geschäftliches, wenn Sie es so nennen wollen. Handelt es sich bei der Übersetzung um einen offiziellen Auftrag? Wie haben Sie sich die Zusammenarbeit vorgestellt?«

Der Bibliothekar überlegte. »Darüber habe ich eigentlich noch nicht nachgedacht. Es ist das erste Mal, dass wir einen Spezialisten, in diesem Fall eine Spezialistin, von draußen holen. Aber Sie machen das ja nicht zum ersten Mal. Machen Sie einen Vorschlag.«

»Also, so dumm es auch klingen mag, normalerweise werden solche alten Schriften meistbietend verkauft. Es sei denn, wir finden die selbst bei einer Ausgrabung. Dann gehören sie dem Land, wo die Ausgrabung stattfindet. In Ihrem Fall ist der Fundort die Basilika Sankt Kastor. Normalerweise gehört die Schrift damit zur Hälfte dem Finder und zur Hälfte dem Eigentümer. Das wäre in beiden Fällen wohl die katholische Kirche. An den Vatikan würde ich ehrlich gesagt die Schrift ungern übergeben. Sie verstehen, was ich meine?«

Aßmann nickte. »Leider ja.«

»Gut. Bevor wir über meine Arbeit reden, habe ich eine Frage: Sind Sie die zuständige Person, mit mir über das Honorar zu verhandeln?«

»Honorar? Im Prinzip schon, also, ich habe keinen Vorgesetzten. Außer Den dort oben natürlich.« Er lächelte.

»Gut, dann mache ich Ihnen einen Vorschlag: Ich verlange kein Honorar gegen die Zusage, das Original, also die Papyrusrolle, mitnehmen zu dürfen, um sie im Royal Ontario Museum in Toronto auszustellen. Sozusagen als Leihgabe der Bibliothek Sankt Kastor. Was meinen Sie, wäre das ein akzeptabler Vorschlag?«

»Hmm. Als Leihgabe, sagten Sie? Das klingt gut. Da könnte niemand was dagegen haben. Und wenn der Vatikan es nicht mitkriegt, in silentii bonus! Einverstanden!« Er streckte ihr die Hand hin und Helen schlug ein.

»Am besten legen wir das schriftlich fest. Ich schlage vor, dass Sie bitte einen entsprechenden Text entwerfen, Frau Schumann. Sie kennen sich ja damit aus, nehme ich an. Dann lass ich Sie jetzt mal in Ruhe. Falls Sie mich brauchen, drücken Sie einfach die Taste Eins auf dem Telefon. Viel Erfolg!«

Damit verließ Bernhard Aßmann den Raum.

 

Wie gewohnt las Helen erst mal das Dokument im Schnelldurchgang durch, bevor sie sich an die Übersetzung machte. Die Sonne hatte sich bereits lange hinter den Horizont gesenkt, als sie die letzte Zeile las.

Obwohl die Bibliothek angenehm beheizt war, zitterte sie.

Sie faltete die Kopie zusammen und steckte sie in ihre Tasche. Dann bestellte sie ein Taxi.

 

Es klopfte an der Tür. Ohne ihre Reaktion abzuwarten, trat ein älterer Herr im grauen Umhang herein. Er ließ die Tür halb offen stehen, als wollte er gleich wieder gehen.

»Guten Abend, Frau Doktor Schumann. Mein Name ist Walter von Gerbrand, ich bin der Prior der Basilika Sankt Kastor. Bruder Bernhard hat mich informiert, dass Sie seiner Einladung gefolgt sind.«

Er reichte ihr die Hand, zog einen Stuhl heran und setzte sich.

»Ich möchte mich kurz mit Ihnen unterhalten.«

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Vater. Ich habe aber gerade ein Taxi bestellt, es wird in etwa einer Viertelstunde hier sein.«

»So lange brauchen wir nicht, versprochen.«

Sie setzte sich wieder.

»Frau Doktor Schumann, weil Sie so spät noch arbeiten, nehme ich an, dass Sie die Schrift bereits gelesen haben?«

Helen wunderte sich nicht über die Frage an sich, als vielmehr über den Zeitpunkt. »Ganz grob, ja. Was wollen Sie wissen? Ich könnte Ihnen bis morgen früh eine kurze Zusammenfassung vorlegen, wenn Sie das wünschen.«

»Sehr gerne. Mein Aramäisch ist, sagen wir mal, bescheiden. Es würde mich eine Ewigkeit kosten, um nur einzelne Stellen aus dem Text zu entziffern. Sie hingegen können mir bestimmt in etwa sagen, was darin geschrieben steht? Für den Moment brauche ich nur ein paar Informationen.«

»Ich werde es versuchen. Wie ich sagte, nur ganz grob. Fragen Sie.«

Helen hörte zu und beantwortete seine Fragen so gut, wie sie konnte.

 

Nachdem der Prior sich verabschiedet hatte, löschte Helen die Lichter und verließ den Raum. Ein schummriges Licht beleuchtete den Flur. Helen stieg die Treppe hinunter, nahm ihren Mantel aus der Garderobe. Da sie den Lichtschalter nicht finden konnte, ließ sie das Licht brennen, warf sich den Mantel über und schloss die Tür hinter sich. Das Taxi wartete bereits. Im Hotelzimmer zog sie sich aus und kroch ins Bett.

Die Fragen des Priors gingen ihr nicht aus dem Kopf. Ebenso wenig die Veränderung seines Gesichtsausdrucks, als sie sie beantwortete.

Er bekam plötzlich Angst!

 

 

4.  Vatikan, Kloster Mater Ecclesia

Dienstag, 6. November

 

»Heiliger Vater, darf ich eintreten?«

»Komm rein, Marcellus, was ist so dringend?«

Er bekam selten unangemeldeten Besuch, erst recht nicht, wenn er sich, was ab und an vorkam, ins Kloster ›Mater Ecclesia‹ zurückzog. Doch der Prälat Marcellus Grimaldi war kein Unbekannter. Wenn er auftauchte, ging es um etwas Wichtiges.

Grimaldi schloss die Tür.

»Eine Nachricht für Sie.« Er überreichte ihm die Depesche. Der Heilige Vater überflog die Zeilen, sein Blick verfinsterte sich.

»Woher hast du sie?«

»Wollen Sie das wirklich wissen?«

»Würde ich sonst fragen, Marcellus?«

»Wir beobachten weltweit gewisse ... sagen wir Zielpersonen, die für die Kirche unangenehm werden könnten, milde ausgedrückt. Darunter Politiker, Theologen, reformsüchtige Priester, Kardinäle, Bischöfe. Sie erinnern sich sicher an den Fall Drewermann.«

Der Heilige Vater nickte. »Den sind wir zum Glück los. Und im vorliegenden Fall?«

»Eine Archäologin des Royal Ontario Museums in Toronto. Sie ist bekannt dafür, archäologische Beweise zu suchen über den Herrn Jesus. Sie erinnern sich an die Ausstellung dieses Ossuariums in Oktober 2002?«

»Ja, ich erinnere mich. Die Israelis konnten sie nicht verhindern, sie waren zu langsam.«

»Eher umgekehrt, Heiliger Vater, die Frau war zu schnell.«

»Gut, und weiter?«

»Wir überwachen ihre E-Mails und da haben wir neulich diese gefunden, die auf den Fund einer frühchristlichen Papyrusschrift in Koblenz hinweist.«

Der Papst las laut vor: »Hier steht: ›Bei Renovierungsarbeiten in der Basilika Sankt Kastor in Koblenz wurde eine Papyrusschrift aus der frühen Christenzeit gefunden. Sie war vermutlich seit dem Jahr 1291 verschollen‹. Ich frage mich, wo sie sich vor dieser Zeit befand. Woran denken Sie als Historiker, wenn Sie das Jahr 1291 lesen, Marcellus?«

»An die Eroberung Akkons am 18. Mai durch die Mamluken.«

»Genau, und an das dadurch eingeläutete Ende der Kreuzfahrten.« Der Papst sah aus dem Fenster, bevor er sich wieder dem jungen Geistlichen zuwandte.

»Hast du eine Vermutung, wieso eine frühchristliche Papyrusschrift über den Herrn Jesu in einem Turm der Basilika Sankt Kastor eingemauert wurde?«

»Um sie zu verstecken. Ich habe nachgeschaut, wer damals der Prior, früher hätte man Abt gesagt, der Basilika war: ein gewisser Lothar von Gerbrand.«

Er sah den Heiligen Vater mit triumphalem Blick an.

»Dein Gesichtsausdruck verrät mir, dass du noch etwas Interessantes herausgefunden hast. Also raus mit der Sprache!«

»Der heutige Prior von Sankt Kastor Walter von Gerbrand ist ein direkter Nachfahre.«

»Mit anderen Worten: Der heutige Prior findet eine alte Schrift, die sein Vorfahre damals versteckt hat. Richtig gut versteckt. Was sagt dir das?«

»Lothar von Gerbrand hätte man einen treuen Katholiken nennen können, wenn es diesen Name für die Heilige Kirche damals bereits gegeben hätte. Und jetzt fantasiere ich ein wenig: Wenn ein treuer Katholik eine frühchristliche Schrift versteckt, aber nicht vernichtet, könnte es sich vielleicht um eine häretische Schrift gehandelt haben, deren Entdeckung er der Zeit und dem Zufall überlassen wollte.«

»Vielleicht ist dieser Gedanke kein Hirngespinst, Marcellus.«

Der Papst gab ihm die Kopie der gehackten Mail zurück und erhob sich aus dem Sessel.

»Hilf mir in meinen Mantel, mein Sohn, und begleite mich. Wir machen einen kurzen Spaziergang durch die Vatikanischen Gärten.«

Marcellus hob die Brauen und tat, was von ihm verlangt wurde.

Sie verließen das Kloster, umrundeten den Adlerbrunnen und liefen die Via dell´ Aquilone hinunter. Am Sacramentbrunnen vorbei, im Schatten des Petersdoms, schlugen sie den Weg zu den Vatikanischen Höfen ein und betraten den Cortile del Belvedere.

Grimaldi sah sich um. »Wohin gehen wir?«

»In das Archivium Secretum, mein Sohn.«

»Das Vatikanische Geheimarchiv?«

»Wenn du es so nennen willst. Der Terminus bezeichnet allerdings lediglich das persönliche Archiv des Papstes.«

Vor dem linken Eingang des dreistöckigen Querbaus blieb der Papst stehen.

»Warte hier auf mich, mein Sohn.«

 

Er öffnete die Tür zum Büro des Präfekten. Der Mann strahlte übers ganze Gesicht, als er ihn sah.

»Heiliger Vater, was gibt mir die Ehre Ihres Besuchs?«

»Sergio, ich muss Einsicht nehmen in ein bestimmtes Archiv, kannst du mir helfen?«

Sie begaben sich in den Saal, wo die päpstlichen Dokumente lagerten.

»Wessen Archiv soll es sein, Heiliger Vater?«

»Wer war um 1291 Papst, wissen Sie das?«

»Nikolaus der Vierte, soviel ich weiß.«

»Hätte er sich für eine häretische Papyrusschrift aus der frühen Christenzeit interessiert?«

»Eher nicht würde ich sagen, das war damals Sache der Inquisition. Genau wie heute, wie Sie als ehemaliger Leiter der Kongregation für die Glaubenslehre sicher wissen.«

»Und wer war damals der oberste Inquisitor?«

»Benedetto Gaetani, der spätere Bonifazius der Achte.«

»Dann zeige mir bitte dessen Archiv.«

Der Archivar lief eine Reihe von Schränken entlang, bis er vor einem stehen blieb. Ein hellgrünes Wappen mit zwei blauen Wellenlinien, einer Papstkrone und zwei gekreuzten Schlüsseln zierte die Tür. Er öffnete sie.

»Hier ist es. Rufen Sie mich, falls Sie weitere Hilfe benötigen, Heiliger Vater. Sie brauchen nur auf die Klingel zu drücken.« Er verbeugte sich und zog sich leise zurück.

Der greise Pontifex nahm einen Stapel Dokumente heraus, legte sie auf einen nahe stehenden Tisch und blätterte durch die Papiere, bis er ein vergilbtes Pergament fand. Er setzte sich und fing an zu lesen. Je weiter er las, desto tiefer gruben sich die Falten in sein Gesicht. Als er fertig war, schob er die Dokumente zurück in den Schrank und schloss die Tür. Dann betätigte er die Klingel.

Der Archivar erschien nach wenigen Sekunden. Der Papst sagte ihm, wo er als Nächstes hin wollte. Nachdem sie durch mehrere Gänge gelaufen waren, hielt der Archivar vor einem Regal.

»Hier finden Sie, was Sie suchen.« Er entfernte sich.

Der Pontifex nahm einen Lederband aus dem Regal, öffnete ihn. Beim Lesen verdüsterte sich sein Blick. »Die Prophezeiung des Malachias«, flüsterte er. »Oh Herr, stehe mir bei.«

 

Eine halbe Stunde später verließ er das Gebäude, wo Grimaldi auf ihn wartete.

Der Papst schien um Jahre gealtert.

Zurück im Kloster nahm er einen seiner persönlichen Briefbogen, schrieb ein paar Zeilen und steckte den Brief in einen Umschlag, den er mit dem päpstlichen Siegel verschloss.

»Ich will, dass du diesen Umschlag für mich abgibst, Marcellus.«

Er nannte ihm den Namen des Empfängers.

»Wenn Kardinal Mancini die Nachricht gelesen hat, soll er hierherkommen. Heute noch.«

»Jawohl, Heiliger Vater.«

Grimaldi verließ das Zimmer und machte sich auf den Weg in die Viale Bruno Buozzi 73, das Hauptquartier des Opus Dei.

Der Papst ließ sich in einen Sessel sacken und schlug die Hände vors Gesicht.

»Ultimus sum«, flüsterte er, »Profetiae praedictus.«